Das Ausmaß der Katastrophe von Fukushima kommt scheibchenweise ans Licht

Andreas Stohl (Norwegisches Institut für Atmosphärenforschung) et al publizierten in Atmospheric Chemistry and Physics einen Fachartikel mit dem Ziel, die Gesamtmenge der radioaktiven Emissionen aus Fukushima zu erfassen. Ihre Daten stammen von Strahlungsmessstationen aus Japan und vielen Teilen der Welt, insbesondere aus dem  Netzwerk, das zur Überwachung von Atomtests eingerichtet wurde und von der Organisation des Vertrags über das Verbot von Nuklearversuchen in Wien (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization, CTBTO) betrieben wird. Das englische Wissenschaftsmagazin Nature berichtete, eine deutsche Übersetzung findet sich bei Spektrumdirekt.

Japanischen Behörden hatten im Juni 2011 veröffentlicht, dass die Reaktoren 1,5 · 1016 Becquerel Cs-137 ausgestoßen haben. Die Ergebnisse von Stohl et al zeigen, dass etwa 3,5 · 1016 Becquerel Cs-137 aus Fukushima austraten, mehr als doppelt so viel wie die japanischen Behörden angaben und etwa die Hälfte dessen, was Tschernobyl ausstieß. Wesentlich höher als bei Tschernobyl war die Emission des radioaktiven Edelgases Xe-133. Stohl et al gehen von 1,7 · 1019 Becquerel Xe-133 aus – mehr als in Tschernobyl in die Umwelt gelangte (1,4 · 1019 Becquerel). Zum Glück wird das radioaktive Edelgas nicht in der biologischen Nahrungskette angereichert. Es ist aber verharmlosend, dass es kein Gesundheitsrisiko darstelle, wie in Nature interpretiert wird.

Insbesondere legen Stohl et al Belege vor, dass Xe-133 bereits unmittelbar nach dem Erdbeben aus den Reaktoren ausgaste – noch bevor der Tsunami kam. Frühere Meldungen, dass die Nuklearkatastrophe bereits vor dem Tsunami einsetzte, werden dadurch bewiesen. Auch die im Abklingbecken von Reaktor 4 eingelagerten abgebrannten Brennstäbe setzten enorme Mengen an Spaltprodukten frei, was japanische Behörden bislang abstreiten.

Der Großraum Tokio mit seinen 35 Millionen Menschen entging nur sehr knapp einer schweren Verstrahlung. In den ersten Tagen nach der Atomkatastrophe blies der Wind den Fallout hinaus auf den Ozean. Er drehte am 14. März und trieb nun die Radionuklide über Nordjapan. Tokio und umliegenden dicht besiedelten Gebieten blieb die schlimmste Verseuchung nur durch glückliche Wetterumstände erspart. „Eine Zeit lang trieben große Mengen an Cs-137 am Himmel über Tokio hinweg, aber es regnete nicht“, so Stohl. „Es hätte also noch viel schlimmer kommen können.“ (zitiert aus spektrumdirekt, 26. 10. 2011).

Nach den japanischen Behörden wäre die Menge an freigesetzten biologisch aktiven Radionukliden etwa ein Viertel, nach Stohl et al die Hälfte der Tschernobyl-Katastrophe. Kann dies das Ausmaß der Fukushima-Katastrophe bereits erfassen? Cs-137 wird berechtigt als Leitnuklid genommen. Wird es messtechnisch erfasst, kann man auf die Menge der anderen schließen.
Die Einschätzung von Stohl et al bezieht sich auf Daten aus der Atmosphäre. Die in den Pazifik geschwemmte Menge an Radionukliden ist nicht berücksichtigt, siehe dazu auch den Artikel von Moldzio et al auf dieser Website.

Doch es ist noch zu berücksichtigen, dass im Unterschied zu Tschernobyl in einigen Reaktoren in Fukushima plutoniumhaltige MOX-Brennstäbe eingesetzt wurden. Abgebrannte Brennelemente lagerten in den Abklingbecken von Reaktor 4. Nach Ausfall der Kühlung kam es zum Brand.  Plutonium-239 ist als Ultragift bekannt. Dazu kommt Plutonium-241, bei den verwendeten MOX-Brennelementen kann der Anteil größer 12% sein. Plutonium-241 ist ein Betastrahler und wandelt sich mit einer Halbwertszeit von 12,9 Jahren zu Americium-241 um. Von Organismen aufgenommen ist die Radiotoxizität von Americium-241 je nach Ablagerungsort im Körper um bis zu 3 Größenordnungen größer als von Plutonium.

Es wird in jüngeren Veröffentlichungen in Presse und Internet zumeist davon ausgegangen, die Freisetzung von Radiaktivität sei gelaufen. Das ist nicht einleuchtend. Die geschmolzenen Reaktorkerne sind immer noch aktiv, eine Kühlung in ihrem Innern ist technisch nicht möglich. Es kann noch Schlimmeres kommen. Das wahre Ausmaß ist immer noch nicht ans Licht gekommen.


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