Mitteilung des Hamburger Gesprächskreises „Dialektik & Materialismus“ zur wissenschaftliche Tagung „Selbstorganisation der Materie“ am 17.11.2018

Die wissenschaftliche Tagung am 16.11. und 17.11.2018 in der HAW zur „Dialektik und Selbstorganisation der Materie“ war ein Highlight des Arbeitskreises Dialektik & Materialismus. In deren Mittelpunkt standen an beiden Tagen zwei Vorträge zur genannten Thematik von Prof. Dr. Christan Jooß, Festkörper-Physiker an der Universität Göttingen.

Die Tagung begann am 16.11. mit einem Vortrag und einer Führung eines Doktoranden des DESY Hamburg durch die Forschungsanlage, mit einem Gang durch die Keller der Beschleuniger und die Hallen der Teilchenphysik. Das war die erste Begegnung einer Gruppe von etwa 17 Personen, die anschließend am Abend von 19 bis 22 Uhr mit Christan Jooß und danach noch außerhalb der HAW miteinander debattierten.

Am folgenden Tag, dem 17.11.18, an dem die Veranstaltung von 11 bis 17 Uhr fortgesetzt wurde, wuchs die Zahl der Teilnehmenden auf bis zu 55 Personen an, die aus Essen, Bielefeld, Minden, Hameln, Berlin, Bremen, Hannover, Hamburg, Jena, Wedel, Leipzig, Kulmbach, Salzwedel, Potsdam, Cottbus, Braunschweig angereist waren. Die Runde setzte sich aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammen: anwesend waren Naturwissenschaftler verschiedenster Disziplinen, Ingenieure bei VW, Arbeiter, Software-Entwickler, Sozialwissenschaftler, Lehrer, Ökonomen, Buch- und Pharmahändler; dies in einer Altersverteilung von Studierenden bis zu betagten Rentnern. Mit einem gemütlichen Abschluss endete die Veranstaltung gegen 19.00 Uhr; die meisten Gesprächskreisteilnehmenden hatten sich übrigens zum ersten Mal gesehen.

Die beiden Vorträge von Prof. Christan Jooß stießen auf ein ungemein lebhaftes Interesse bei den Teilnehmenden dieser zweitägigen wissenschaftlichen Tagung. Insbesondere seine kenntnisreichen, didaktisch hervorragend aufbereiteten Darlegungen, sein geduldiges Eingehen auf die unterschiedlichen Argumente und Diskussionsfragen fanden hohe Anerkennung. Der Referent brachte eine Fülle naturwissenschaftlicher Beispiele in einer anschaulichen Präsentation.

Von der Vielfalt der von ihm behandelten Themen hier nur eine kleine Auswahl: So war etwa der Aufweis gewisser Ähnlichkeiten und gesetzmäßiger Zusammenhänge im Vergleich der unterschiedlichen Materie-Ebenen vom Mikro- bis zum Makro-Kosmos für das mehrheitlich aus Nicht-Physikern bestehende Publikum sehr interessant. Es seien z.B. für das Begreifen der Vorgänge im Innern von Sternen in ihren jeweiligen Entwicklungsphasen gerade auch Erkenntnisse aus der Mikrowelt, also der kleinsten Teilchen, von Bedeutung.

Begrifflich unterschied Jooß zwischen einem (allgemeinen oder) philosophisch-materialistischen Materiebegriff, wobei er auf Argumente aus Lenins Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus“ (LW 14) zurückgriff, und einem naturwissenschaftlichen Materiebegriff, der die unterschiedlichen, jeweils konkreten Materieformen etwa der Physik, der Chemie oder der Biologie untersucht. Er setzte sich kritisch sowohl mit dem Fehler der einfachen Gleichsetzung bestimmter konkreter Formen der Materie mit dem erkenntnistheoretischen Materiebegriff auseinander, wie auch mit der Abtrennung von Naturwissenschaft und marxistischer Erkenntnistheorie, was beides zu Problemen führt. Jooß sagt: “ Erst in der gesamten Totalität aller Materieformen werden beide Begriffe identisch, was jedoch, auf Grund der Bewegung und Veränderung der Materie und den Erkenntnisprozess des Menschen ein unendlicher Prozess ist.

Ein zentraler Diskussionspunkt innerhalb der übergreifenden Thematik einer „Selbstorganisation der Materie“ war die Auseinandersetzung mit der sog. „Urknall-Hypothese“, ferner auch die Frage, ob insbesondere für das Verständnis der Vorgänge im Quantenbereich eine moderne Fassung eines Äther-Begriffs im Sinne eines „Quantenäthers“ vonnöten ist (der die problematischen Vorstellungen

des mechanisch verstandenen Ätherbegriffs des 19. Jahrhunderts vermeidet). Diskutiert wurde nicht zuletzt auch die Frage, inwiefern im Unterschied zu einem nichtdialektischen ein dialektisches Denken bestimmte Vorgänge in der Natur besser zu beschreiben und zu erkennen erlaubt sowie auch eine heuristische Funktion bei der Suche nach Problemlösungen haben kann. In diesem Kontext spielte auch der letztlich auf Hegel zurückgehende Begriff des „Gesamtzusammenhangs“ eine Rolle, den Engels benutzte, um den Gegenstand der Dialektik zu kennzeichnen. Diskutiert wurde ferner auch die Spezifik einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise: von der Theorie- und Hypothesenbildung zur Versuchsanordnung von Experimenten und der Prüfung z.B. durch Messungen.

Der Zusammenhang der Weltanschauung (auch Gesamtzusammenhang, F. Engels) und Methode in der Naturwissenschaft zu brennenden gesellschaftlichen Fragen wurde im Vortrag hergestellt und in der Diskussion weiter vertieft, u.a. an der Umweltfrage, der VW Krise, der Rechtfertigung der Klassenverhältnisse. Der Referent vertrat die These, dass die Loslösung der Wissenschaft von der Wirklichkeit kein Zufall ist, sondern der Rechtfertigung von Umweltzerstörung und Herrschaftsverhältnissen dient. Er warf auf, dass die Urknalltheorie verblüffend der Einbahnstraße der kapitalistischen Wegwerfproduktion ähnelt (Vom Rohstoff aus dem Nichts im Urknall zum Wärmetod) während eine systemische dialektische Betrachtung aller miteinander verbunden Entwicklungsprozesse im Kosmos von Methode und Weltanschauung zur Entwicklung einer umweltfreundlichen Kreislaufwirtschaft notwendig ist. Die Erforschung der spiralförmigen Entwicklungsprozesse der Materie wie auch die Kreislaufwirtschaft brauchen eine höhere Systemik der Wissenschaft mit der bewussten Anwendung der dialektischen Methode, die nach Meinung des Referenten erst im Sozialismus möglich ist.

Insgesamt wurde durch die Veranstaltung deutlich, dass die Debatte zur Theoriebildung mittels der dialektischen Methode im Kontext einer materialistischen Praxis nach einer Fortsetzung verlangt.

Schließlich: Vor dem Hintergrund des Werbeverbots für diese Veranstaltung durch die Leitung der TU-Hamburg/Harburg wurde auch die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Situation thematisiert. So ist eine wachsende Verengung dessen festzustellen, was im Sinne des Mainstreams akzeptiert wird; dies zeigen auch die unterschiedlichen Formen einer Bekämpfung der wissenschaftlichen Inhalte, die mit der dialektischen Methode und dem materialistischen Denken in Verbindung gebracht werden, ob an den Hochschulen, in den Medien oder im Alltag. Das Vorgehen der TU-Leitung erfordert es, dass eine freie wissenschaftliche Auseinandersetzung auch politisch verteidigt bzw. erkämpft werden muss.

Ulrich Fritsche, Gesprächskreis Dialektik & Materialismus, Kontakt: unsereweltclub@gmail.com


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